Drei Wochen vor meinem 20. Geburtstag, ich erinnere mich daran, als ob es gestern war. In der Pause während der Berufsschule. Meine Freundin flocht mir gerade Zöpfe, als sie plötzlich rief: „Du hast ja graue Haare.“ Das war der Anfang. Und damit auch das Ende. Zumindest für meine natürliche Haarfarbe.
Mein graues Vermächtnis
Seit ich denken konnte, hat sich meine Mutter die Haare gefärbt. Alle drei Wochen beobachtete ich sie im Badezimmer und war gespannt, wie sie wohl diesmal aussehen würde. Diese Regelmässigkeit hatte seinen Grund. Meine Mama hatte bereits in den frühen Zwanzigern mit einem ergrauten Schopf zu kämpfen.
Als gelernte Friseurin war es ihr wichtig, ihre grauen Haare so gut wie möglich zu verstecken. Und da ich ihr nicht nur in der Haarstruktur wahnsinnig ähnle, wusste ich schon früh, was mir blühen wird. Das es aber so schnell gehen würde, damit habe ich nicht gerechnet.
Graue Haare dürfen nicht sein
Ende der 2000er kannte man grau-gefärbtes Haar noch nicht. Und natürlich-grau war definitiv etwas für alte Menschen. Ich kannte niemand unter 40 (was damals schon SEHR alt für mich war!), der zu seinem grauen Haar stand und es auch noch schön fand.
Also begann für mich die „normale“ Tortur. Alle drei Wochen setzte ich mich auf den Friseur-Stuhl und liess mir den Ansatz färben. Dabei hätte ich mir jedes Mal am liebsten die Kopfhaut blutig gekratzt. Es juckte und brannte auf meinem Haupt. Meine Mutter versuchte alles. Farbe mit weniger von was-weiss-ich, dafür mehr von keine-Ahnung-was. Nichts funktionierte. Doch die Routine blieb. Wenigsten in diesem Punkt wollte ich dem gängigen Schönheitsideal von egal-was-nur-nicht-grau entsprechen.
Ein längst überfälliger Denkanstoss
Als ich nach Mexiko auswanderte, habe ich viele alte Gewohnheiten hinter mir gelassen. Nicht so das Haare färben. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ich es nun selber machen musste. Aber das bekam ich hin.
Einige Jahre später, ich war immer noch in Mexiko, fragte mich mein damaliger Freund, warum ich mir das überhaupt antue. Eine wirkliche Antwort konnte ich ihm nicht geben. Weil ich zu jung für Natürlichkeit war? Bloss, weil es von mir erwartet wurde? Weil graue Haare nicht schön sind? Weil ich es für mich tue?
Ich fing an, darüber nachzudenken, fand aber keine zufriedenstellende Antwort. Was tue ich hier eigentlich? Mittlerweile rannten haufenweise junge Frauen zum Friseur, um sich die Haare grau zu färben (ja, wir waren nun in dieser Zeit angekommen). Und ich wollte meine weiterhin verstecken? An diesem Tag beschloss ich, damit aufzuhören. Für immer. Das war sechs Wochen vor meiner Hochzeit. Ich hab den Freund, der den Stein ins Rollen gebracht hat, gleich geheiratet. 🙂 Ja, auf meinen Hochzeitsfotos könnte man wahrscheinlich einen Ansatz entdecken, wenn es denn ein paar gute gäbe. Aber das ist eine andere Geschichte. Wenn du sie lesen möchtest, dann schau hier nach.
Natürlich grau – ein Tabu
Seit dem Tag sind nun über 5 Jahre vergangen. Mittlerweile hat sich mein Umfeld wohl daran gewöhnt. Die Kommentare am Anfang haben mich aber mehr als einmal ins Grübeln gebracht. Von „Ich liebe deine grauen Haare. Und dass du dazu stehst“ bis zu „Ach, du meine Güte, du bist ja total grau. Schlimmer als meine Grossmutter“ war so ziemlich alles dabei.
Spannend zu beobachten war, dass solche Reaktionen bei meinem Bruder ausblieben. Obwohl er mit demselben Erbgut gesegnet ist.
Zufall? Ich denke eher nicht.
Ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin. Es mag für viele eine Kleinigkeit sein. Für mich war es ein grosser Schritt. Und ich weiss, dass es vielen Frauen ähnlich geht. Deshalb stellt sich mir am Ende nur eine einzige Frage: wann dürfen wir Frauen einfach so sein, wie wir sind? Ohne, dass wir uns rechtfertigen müssen? Ohne, dass wir be- und sogar verurteilt werden? Ich freue mich auf deine Gedanken zu dem Thema.
Deine
Corina
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